Der Schmetterling
Lara hat die Beine ausgestreckt und den Oberkörper nach hinten gelehnt, ihn mit den Ellbogen in der Wiese abgestützt. Da landet ein Schmetterling auf ihrem Schienbein. Sie versucht, die Beine nicht zu bewegen und den Oberkörper weiter nach oben zu hieven. Sie verlagert das Gewicht von den Ellbogen auf die Hände, hebt den Oberkörper und wandert mit den Händen näher an den Körper heran. Der Schmetterling hebt ab, macht ein paar Flügelschläge, landet wieder auf Laras Bein.
Mit seinem Rüssel stochert er auf der Haut herum, tastet die Haare ab. Er setzt ein Bein vor das andere, krabbelt Laras Bein entlang, rollt den Rüssel ein, fährt ihn wieder aus und tastet. Es kitzelt ein wenig. Laras Oberkörper ist nun ohne Unterstützung stabil, sie hat die Arme frei, zieht das Smartphone aus ihrer Hosentasche und will ein Foto machen. Sie lehnt sich nach vorne. Sie nutzt die Zoomfunktion.
Der Schmetterling hebt wieder ab, entfernt sich, ändert schnell und mehrmals hintereinander die Flugrichtung, kommt dann zurück und landet wieder auf Laras Bein. Jetzt kann sie ein Foto machen. Der Schmetterling bewegt seine Flügel, öffnet und schließt sie. Lara macht ein Foto genau in einem Moment, in dem die Flügel geöffnet sind. Sie sieht sich das Foto am Smartphone an, zoomt hinein.
Sie hat gelesen, dass Schmetterlinge an der Oberfläche der Flügel Nanostrukturen haben. Diese Unebenheiten zerteilen Wassertropfen in kleinere Tropfen, die dann leichter abrutschen können: Schmetterlingsflügel sind wasserabweisend. In der Forschung erstellt man nun mit solchen Unebenheiten wasserabweisendes Material und überlegt, wie man es für das Bauen von Schiffen einsetzen kann oder für Städte, die auf Wasser errichtet werden und werden müssen, wenn die Klimakatastrophe so weiter geht. Lara zoomt weiter an die Schmetterlingsflügel auf dem Foto heran. Sie kann keine Nanostrukturen erkennen. Sie steckt das Smartphone in die Hosentasche. Es ist kein Schmetterling mehr auf ihrem Bein.
Sie schaut um sich. Fliegt er dort drüben, wo es in den Wald hineingeht? Kennt er sich hier aus? Hat er immer schon hier gelebt? Wie alt ist er überhaupt? Hat er als Raupe hier die Blätter gefressen? Wo hat er sich verpuppt? Haben seine Eltern auch in dieser Gegend gelebt? Und die Eier abgelegt? Haben vorige Generationen des Schmetterlings die Beine von Laras Großmutter betastet? Lara stützt sich mit den Händen hinter ihrem Oberkörper ab und lässt sich dann ins Gras sinken. Sie schließt die Augen. Ist die Oma hier früher auch öfter im Gras gelegen?
Lara spürt etwas bei ihrer Augenbraue. Sie öffnet die Augen einen Spalt weit. Sie kann nichts erkennen. Sie tastet nach ihrem Smartphone, hebt es vorsichtig nach oben, aktiviert die Selfie-Funktion und erkennt: Ein Schmetterling sitzt auf ihrer Augenbraue. Lara legt das Smartphone zur Seite, schließt die Augen, spürt das Kitzeln.
Tamara Imlinger Der Text ist ein Kapitel aus dem Roman, an dem Tamara Imlinger arbeitet. Teile des Texts basieren auf der ARTE-Doku Schmetterlinge – Quelle der Inspiration.